Chemie in Rostock - ein Rückblick
Die Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Problemen reicht weit in die Geschichte unserer altehrwürdigen Universität zurück, die im Jahr 2019 ihr 600-jähriges Jubiläum beging. Die ersten Gelehrten, die sich mit Naturphilosophie und Naturgeschichte befassten, wirkten an der Artistenfakultät. Dort wurden die artes liberales gelehrt. Gelehrte und Studierende wohnten in sogenannten Regentien, von denen sich einige an der Südseite des heutigen Universitätsplatzes befanden. Es wird vermutet, dass es dort schon eine Bücher- und eine naturkundliche Sammlung gab. Ob auch ein Laboratorium vorhanden war, ist ungewiss. Alchemistische Arbeiten, evtl. auch im Haus der Mediziner an der heutigen Breiten Straße, sind nicht auszuschließen.
Durch Joachim Jungius (1587-1657), der an der Rostocker Universität studierte und lehrte, kamen Fragen der Naturforschung stärker in das Zentrum des Interesses. Er beschäftigte sich mit der Atomistik und forderte den Einsatz von Waagen beim Experimentieren. Jungius gründete in Rostock auch die erste naturforschende Gesellschaft nördlich der Alpen, die jedoch nicht lange existierte.
Dass die Chemie für die Ausbildung der Medizinstudenten eine große Rolle spielte, zeigen schon die Vorlesungsverzeichnisse des 17. und 18. Jahrhunderts. Es wurden Experimentalvorlesungen zur Gewinnung pharmazeutischer Präparate von Vertretern der Medizinischen Fakultät angeboten. Auch aus den Statuten der zwischen 1760 und 1789 existierenden Universität in Bützow, die durch eine Aufspaltung der Universität Rostock entstanden war, geht hervor, dass Chemievorlesungen als dringendes Erfordernis für Medizinstudenten angesehen wurden.
Nach Überwindung der Spaltung der Universität kam es zur Schaffung eines Lehrstuhls für Naturgeschichte, Chemie und Botanik, diesen erhielt 1792 Heinrich Friedrich Link (1767-1851). Er wird zwar häufig als Botaniker angesehen, doch in Rostock hat er sich u. a. sehr intensiv mit chemischen Problemen wie den Wahlverwandtschaften (Fragen der Affinität) und der antiphlogistischen Lehre auseinandergesetzt. Bereits 1806 forderte Link vehement die Einrichtung eines chemischen Labors.
Als Link 1811 Rostock verließ, trug man der Rolle der Chemie als eigenständige Wissenschaft Rechnung und richtete eine Professur für Chemie und Pharmazie ein. Der Rostocker Apothekersohn Gustav Mähl (1789-1833) wurde für diese ausgewählt. Dass die Bedeutung der Chemie für die Medizin in vollem Umfang anerkannt wurde, äußerte sich auch darin, dass die Medizinische Fakultät anlässlich der 400-Jahr-Feier der Universität bedeutenden Chemikern die Ehrendoktorwürde verlieh. Dazu gehörten Nicolas Vauquelin (1763-1829) aus Paris, Sigismund Friedrich Hermbstädt (1760-1833) aus Berlin und Humphry Davy (1178-1829) aus London. Den Wünschen nach einer modernen Chemieausbildung der Medizinstudierenden kam Gustav Mähl nicht nach, deshalb wurde noch zu seinen Lebzeiten eine außerordentliche Professur für Helmuth von Blücher (1805-1862), einem fernen Verwandten des in Rostock geborenen Feldmarschalls Gebhard Leberecht von Blücher (1742-1819), eingerichtet.
Von Blücher war dann von 1834 bis 1850 ordentlicher Professor für Chemie und Pharmazie, ihm ist die Einrichtung von zwei chemischen Laboratorien zu verdanken. Das erste, 1834 eröffnete Laboratorium befand sich auf dem Hof hinter dem heutigen Universitätsgebäude. Bereits 10 Jahre später entstand das Neue Museum, das allen naturwissenschaftlichen Disziplinen Raum für Hörsäle, Laboratorien und die Aufbewahrung der Sammlungen bot.
Nachdem von Blücher seinen Lehrstuhl aufgegeben hatte, wirkten hier Franz Ferdinand Schulze (1815-1873), der als Begründer der Agrikulturchemie in Mecklenburg angesehen wird, und der wohl erste deutsche Meereschemiker Oscar Jacobsen (1840-1889). Unter Jacobsen erhielt die Chemie ein umgebautes Gebäude in der Buchbinderstraße, wodurch mehr Raum für Forschung und Lehre zur Verfügung stand.
Doch bereits um die Wende zum 20. Jahrhundert reichte die Kapazität nicht mehr aus, da ein Teil des Gebäudes durch das Hygienische Institut genutzt wurde. Der seit 1890 in Rostock wirkende August Michaelis (1847-1916) bemühte sich erfolglos um ein neues Gebäude. Unter ihm stieg die Anzahl der Studierenden der Chemie und Pharmazie deutlich an, auch die Anzahl der Promotionen erreichte einen Höhepunkt.
Michaelis war ein bedeutender Vordenker auf einigen heute in unserem Institut bearbeiteten Forschungsgebieten, z. B. der Organo-Phosphor-Chemie.
Anfang des 20. Jahrhunderts gab es noch keine Frauen an der Rostocker Chemie, wie auch die Gruppenaufnahme aus dem Jahr 1903 zeigt. Wie wir heute wissen, trug sich 1908 die erste Frau, Else Hirschberg (1892-1942), als Gasthörerin an der Philosophischen Fakultät ein. Sie besuchte Vorlesungen und Praktika bei Michaelis und legte als erste Frau in Rostock 1913 das Verbandsexamen ab. Für das Promotionsverfahren wurde sie 1913 jedoch wegen des fehlenden Abiturs abgelehnt.
So wurde Mathilde Klosmann geb. Hass (1896-1965) unter Paul Pfeiffer (1875-1951), dem Nachfolger von Michaelis, im Jahre 1920 als erste Chemikerin erfolgreich in Rostock promoviert.
Mit dem Amtsantritt von Paul Walden (1863-1957) im Jahre 1919 hatte Richard Stoermer (1870-1940) eine ordentliche Honorarprofessur für Organische Chemie erhalten, Walden wurde Ordinarius für Anorganische und Pharmazeutische Chemie (Zu Paul Waldens 150. Geburtstag). Ein Ordinariat für Organische Chemie gab es erst 1937 unter Kurt Maurer (1900-1945).
Die Ausbildung in Physikalischer Chemie oblag ab 1904 dem Physikochemischen Laboratorium unter Leitung von Gottfried Kümmell (1866-1922). Später übernahm Walden mit seinen Mitarbeitern diese Lehrveranstaltungen.
Ab 1943 gab es neben dem Institut für Chemie, das sich in eine Anorganische, eine Organische und eine Pharmazeutische Abteilung untergliederte, auch ein Institut für Physikalische Chemie mit Günter V. Schulz (1905-1999) als Direktor. Während des Zweiten Weltkriegs wurden an beiden chemischen Instituten – mit erheblicher finanzieller Unterstützung durch die Deutsche Gemeinschaft zur Erhaltung und Förderung der Forschung (kurz: Deutsche Forschungsgemeinschaft) – kriegsrelevante Forschungen u.a. zu Glycerin-Austauschstoffen und Katalysatoreinsatz bei der Sprengstoffproduktion durchgeführt.
Nach der Wiedereröffnung der Universität im Februar 1946 stieg die Zahl der Chemiestudierenden enorm an. Sicher ist es im wesentlichen Günther Rienäcker (1904-1989), der seit 1943 die Anorganische Chemie in Rostock vertrat, zu verdanken, dass 1952 der Bau eines großen Hörsaals mit 230 Plätzen als erster Neubau der Universität nach dem Kriegsende durchgesetzt wurde.
Bis zu dieser Zeit hatten die Professoren der Chemie zur Philosophischen Fakultät gehört. Erst 1951 wurde in Rostock die Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät gegründet, zu der auch die Biologie, die Geologie, die Geographie, die Mathematik, die Mineralogie, die Pharmazie und die Physik gehörten.
1955 erfolgte eine Umstrukturierung, nun sprach man von der Fachrichtung Chemie mit den Instituten für Anorganische, für Organische, für Pharmazeutisch-Chemische und Physikalische Chemie. Der Organiker Helmut Zinner (1921-2002) entwickelte, aufbauend auf der durch Kurt Maurer begründeten Tradition, eine leistungsfähige und international anerkannte Kohlenhydratchemie. Günther Schott (1921-1985) etablierte in Rostock die Silicium-Chemie, engagierte sich für eine moderne Lehre und bemühte sich wiederum – leider erfolglos – um die Realisierung von Neubauten.
Eine Zäsur in der Entwicklung stellte die Dritte Hochschulreform 1968/69 dar. Parallel zu den 1968er Ereignissen an den westdeutschen und westeuropäischen Universitäten erfolgte auch in der DDR die Abschaffung der Ordinarienuniversität. Diesem Aspekt wurde von einem Teil der Universitätsangehörigen eine gewisse Sympathie entgegengebracht.
Die Fakultäten wurden umstrukturiert. Die Chemie – nunmehr Sektion –gehörte zur Fakultät für Biologie, Chemie und Agrarwissenschaften. Die Sektion gliederte sich in so genannten Fachbereiche (später Wissenschaftsbereiche): Anorganische, Organische, Physikalische, Analytische, Technische Chemie sowie die von der Landwirtschaftlichen Fakultät übernommene Landwirtschaftliche Chemie und die von der Philosophischen Fakultät herausgelöste Chemiemethodik. Später wurden die Analytische und Technische Chemie zum Wissenschaftsbereich Angewandte Chemie vereinigt und die Landwirtschaftliche Chemie wurde in die Organische Chemie einbezogen.
Die Lehre wurde formal umgestaltet. Im Rahmen des in der DDR eingeführten dreigeteilten Fachstudiums (Synthesechemie, Technische Chemie, Theoretische Chemie) wurden in Rostock Synthesechemiker mit einem Fächerkanon ausgebildet, in dem klassische Fächer wie Anorganische oder Organische Chemie formal nicht mehr vorkamen. Das Studium wurde auf vier Jahre reduziert. Doch schon nach kurzer Zeit wurden diese Änderungen in der Lehre – zumindest teilweise – revidiert.
Unter dem Schlagwort der Konzentration und Profilierung der Universität auf wenige Schwerpunkte sollten alle Wissenschaftsbereiche mit Ausnahme der Physikalischen Chemie auf dem Gebiet der Wirkstoffe von Pflanzenschutzmitteln forschen und eng mit der Industrie zusammenarbeiten. Die materiellen Bedingungen waren in den Jahren nach der Dritten Hochschulreform schwierig, obwohl einige Anschaffungen dank der Industriepartner realisiert werden konnten. Die schon oft konzipierten Neubauten in der Südstadt, teilweise bis zur letzten Steckdose geplant, konnten nicht entstehen. So musste auch der 100. Jahrestag der Übernahme des Gebäudes für das Chemische Institut in der Buchbinderstr. noch an diesem Ort begangen werden. Die Laborbaracke am Rosengarten, die 1953 als Übergangslösung übernommen worden war und in der alle einführenden Praktika stattfanden, musste mit komplizierten Ausnahmegenehmigungen betrieben werden. Als einziger Neubau wurde der Anbau für das NMR-Gerät an den sogenannten Pavillon im Hof des Instituts – zum Teil in Eigenleistung – verwirklicht.
Die Arbeitsbedingungen erforderten ein hohes Maß an Enthusiasmus und Erfindergeist, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufbrachten. Zweifelsohne stammen aus dieser Zeit auch eine Reihe von national und international anerkannten Forschungsleistungen.
Aus der Sektion Chemie wurde mit der politischen Wende 1990 der Fachbereich Chemie und schließlich 2004 das Institut für Chemie, das sich in den letzten 25 Jahren im Hinblick auf die Leistungen in Lehre und Forschung hervorragend entwickelt hat. Enge Kooperationen verbinden das Institut mit den Leibniz-Instituten für Katalyse und Ostseeforschung sowie dem Helmholtz-Zentrum München. Die Interdisziplinarität der Forschung spiegelt sich in der Tatsache wider, dass Chemikerinnen und Chemiker des Instituts maßgeblich an Arbeiten der Departments der Interdisziplinären Fakultät der Universität beteiligt sind.
1992 wurde eine neue Stellenstruktur eingeführt, alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden von der Ehrenkommission hinsichtlich ihres Verhaltens geprüft, die Hochschullehrer mussten sich zusätzlich einer wissenschaftlichen Begutachtung unterziehen. Auch in den folgenden Jahren kam es zu weiteren Stelleneinsparungen, vor allem im akademischen Mittelbau. Es bleibt zu hoffen, dass ab 2017 keine weiteren Stellenstreichungen erfolgen werden.
Ab 1992 verbesserten sich die Arbeitsbedingungen deutlich. In jenem Jahr wurden die Räumlichkeiten der ehemaligen Veterinärfachschule im Dr.-Lorenz-Weg übernommen. Das schuf zwar Platz, doch war die bauliche Substanz bereits zu jener Zeit kritisch.
1997 entstand als Zwischenlösung ebenfalls dort ein Containerbau für die Anorganische und Organische Chemie. Beide Abteilungen konnten 2001 – gemeinsam mit der Technischen Chemie – in den Neubau auf dem Südstadt-Campus ziehen.
Durch die Fertigstellung des Forschungsbaus des Departments Leben Licht & Materie verbesserten sich die Forschungsbedingungen der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, ganz erheblich. Im Dezember 2016 erfolgte der Spatenstich für einen Erweiterungsbau, sodass auch die Analytische und Physikalische Chemie sowie die Didaktik der Chemie neue Räumlichkeiten in Aussicht haben. Dem Bologna-Prozess folgend wurden auch am Institut für Chemie Bachelor- und Masterstudiengänge eingeführt, die sich durch eine umfassende, den modernen Erfordernissen angepasste theoretische und praktische Wissensvermittlung auszeichnen. In den letzten beiden CHE-Rankings für die Studiengänge Bachelor/Master Chemie erreichte das Institut beeindruckende Ergebnisse. In fast allen Befragungskategorien fand sich das Institut in der jeweiligen Spitzengruppe wieder.
Die Rechte an den Fotos gehören - sofern nicht anders vermerkt - dem Institut für Chemie der Universität Rostock bzw. dem Universitätsarchiv Rostock.
Gisela Boeck, September 2017
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